HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2012
13. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

282. BVerfG 2 BvR 1464/11 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 5. März 2012 (OLG Dresden / LG Dresden)

Rechtsstaatsprinzip; Recht auf faires Verfahren; Verfahrensabsprache; Rechtsmittelverzicht; Sachaufklärungspflicht; Freibeweisverfahren; Hauptverhandlungsprotokoll; Dokumentationspflicht.

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 257c StPO; § 273 StPO; § 302 StPO

1. Aus dem Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausprägung als Recht auf ein faires Verfahren ergeben sich Mindestanforderungen für eine zuverlässige Sachverhaltsaufklärung. Dies gilt auch bei der obergerichtlichen Überprüfung der Wirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts. Dabei ist es grundsätzlich verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn im Freibeweisverfahren nicht zu beseitigende Zweifel in Bezug auf Verfahrenstatsachen grundsätzlich zulasten des Angeklagten gewertet werden.

2. Rechtsstaatlich nicht hinnehmbar ist es allerdings, wenn die Zweifel darauf zurückzuführen sind, dass das Tatgericht gegen eine gesetzliche Dokumentationspflicht verstoßen und entgegen § 273 Abs. 1a StPO weder das Zustandekommen einer Verfahrensabsprache noch deren Unterbleiben protokolliert hat.

3. Zweifel, die sich nicht zu Lasten des Angeklagten auswirken dürfen, bestehen etwa dann, wenn dessen Vortrag, einen Rechtsmittelverzicht nur aus Furcht vor einer Wiederinvollzugsetzung des Haftbefehls erklärt zu haben, nicht tragfähig zu beurteilen ist, weil jegliche Protokollierung zur Frage einer Absprache fehlt, die dienstliche Äußerung der Sitzungsvertreterin der Staats-

anwaltschaft zur Haftfrage widersprüchlich ist und Stellungnahmen der Schöffen und der Urkundsbeamtin nicht eingeholt worden sind.

4. Ausdrücklich offen lässt die Kammer die hier nicht entscheidungserhebliche grundsätzliche Frage, ob Verfahrensabsprachen und die entsprechenden Regelungen der Strafprozessordnung mit dem Grundgesetz vereinbar sind.


Entscheidung

279. BVerfG 2 BvR 309/10 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 29. Februar 2012 (OLG Naumburg / LG Stendal)

Telefonerlaubnis im Strafvollzug; Antrag auf gerichtliche Entscheidung (effektiver Rechtsschutz; Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 32 Satz 1 StVollzG; § 109 Abs. 1 StVollzG

1. Art. 19 Abs. 4 GG verpflichtet die Gerichte, Rechtsschutz gegen geltend gemachte Rechtsverletzungen auch insoweit zu gewähren, als einem Beschwerdeführer nur ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung zur Seite steht.

2. § 32 Satz 1 StVollzG stellt die Gestattung von Telefongesprächen von Gefangenen in das Ermessen der Justizvollzugsanstalt. Unterbindet eine Vollzugsanstalt generell Telefonate von Gefangenen mit Behörden und Gerichten, so ist auf einen entsprechenden Antrag des Gefangenen zu überprüfen, ob die Entscheidung der Anstalt dessen Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung verletzt.

3. Allein die Erwägung, Anträge bei Gerichten seien nach dem Gesetz schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle zu stellen, genügt in diesem Zusammenhang den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG nicht, wenn der Beschwerdeführer auch mit anderen Stellen als mit Gerichten telefonisch kommunizieren möchte.


Entscheidung

280. BVerfG 2 BvR 988/10 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 7. März 2012 (LG München I / AG München)

Untersuchungshaft; Rechtsschutzbedürfnis bei der Verfassungsbeschwerde; faires Verfahren; Verteidigergespräche (telefonische).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK; § 119 StPO; § 148 StPO

1. Das Rechtsschutzbedürfnis für Verfassungsbeschwerden gegen Maßnahmen im Vollzug der Untersuchungshaft entfällt nicht mit dem Übergang des Betroffenen in die Strafhaft oder mit einer in diesem Zusammenhang erfolgenden Verlegung, weil in diesem Bereich ansonsten kein wirksamer verfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz gewährleistet wäre.

2. Das aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG herzuleitende Grundrecht auf ein faires Verfahren gewährleistet den freien Kontakt zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger. § 148 Abs. 1 StPO konkretisiert dieses Verfahrensgrundrecht und schließt Beschränkungen der Kommunikation zwischen einem Beschuldigten und seinem nicht selbst tat- oder teilnahmeverdächtigen Verteidiger regelmäßig aus.

3. Der Schutz der Kommunikation des Beschuldigten mit seinem Verteidiger wird auch durch § 119 StPO, der Beschränkungen der Telekommunikation von Untersuchungsgefangenen zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr zulässt, nicht gemindert, wie sich ausdrücklich aus § 119 Abs. 4 Satz 1 StPO ergibt.

4. Die Annahme, es sei nicht hinreichend sichergestellt, dass es sich bei einer telefonisch kontaktierten Person tatsächlich um den Verteidiger handelt, ist regelmäßig nicht geeignet, telefonische Kontakte zwischen Beschuldigtem und Verteidiger zu unterbinden, weil der Strafverteidiger kraft seiner Stellung als Organ der Rechtspflege einen Vertrauensvorschuss genießt.


Entscheidung

277. BVerfG 1 BvR 289/12 (1. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 9. Februar 2012 (OLG Frankfurt am Main)

Sitzungspolizeiliche Anordnung; Pressemitteilung; Abbildung (Anonymisierung; „Verpixelung“); Pressefreiheit.

Art. 5 Abs. 1 GG; § 176 GVG; § 93 Abs. 1 BVerfGG

1. Die in Form einer Pressemitteilung ergangene sitzungspolizeiliche Anordnung, wonach der Angeklagte im Rahmen der Presseberichterstattung nur anonymisiert abgebildet werden darf, gelangt regelmäßig mit der Veröffentlichung der Pressemitteilung, spätestens jedoch zu Beginn der ersten mündlichen Verhandlung zur Kenntnis der betroffenen Presseorgane. Damit beginnt der Lauf der Frist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde nach § 93 Abs. 1 BVerfGG.

2. Ein Rechtsbehelf gegen eine derartige sitzungspolizeiliche Anordnung ist offensichtlich unstatthaft und deshalb nicht geeignet, die Frist zur Erhebung der Verfassungsbeschwerde offen zu halten. Etwas anderes kann allenfalls dann gelten, wenn auf den Rechtsbehelf eine Entscheidung ergeht, die eine neue sitzungspolizeiliche Anordnung darstellt. Dies ist nicht der Fall, wenn mit dem Rechtsbehelf nur Umstände gerügt worden sind, die bereits zum Zeitpunkt der angegriffenen Anordnung von Bedeutung waren.


Entscheidung

278. BVerfG 1 BvR 2883/11 (1. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 29. Februar 2012 (LG Frankenthal [Pfalz] / AG Grünstadt)

Schutz der Meinungsfreiheit und üble Nachrede (Abgrenzung von Tatsachenbehauptung und Werturteil); Verteidigung im Bußgeldverfahren (Sachverhaltsschilderung; erlaubte Zuspitzung).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; Art. 10 EMRK; Art. 6 EMRK; § 186 StGB; § 47 Abs. 1 Satz 2 OWiG

1. Bei der schriftlichen Äußerung des Betroffenen eines straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahrens, der ihn überprüfende Polizeibeamte habe „wohl den Tag über zu lange (...) in der Sonne gestanden oder (...)

ganz einfach dort mitgefeiert“ handelt es sich im Schwerpunkt um durch Elemente der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägte Werturteile und damit um Meinungen im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Dies gilt umso mehr, wenn die Äußerung mit dem Halbsatz „Ehrliche Meinung meinerseits:“ eingeleitet wird.

2. Die unzutreffende strafgerichtliche Einstufung einer derartigen Äußerung als Tatsachenbehauptung verstößt bereits deshalb gegen Art. 5 Abs. 1 GG, weil Tatsachenbehauptungen strafrechtlich wie auch verfassungsrechtlich einen geringeren Schutz in Anspruch nehmen können und Einschränkungen leichter zugänglich sind als Meinungsäußerungen.

3. Bei der strafrechtlichen Würdigung ist es zugunsten des Beschuldigten zu berücksichtigen, wenn seine Äußerung im Zusammenhang mit dem Begehren steht, die Einstellung eines gegen ihn eingeleiteten Bußgeldverfahrens zu bewirken. Hiervon ist insbesondere dann auszugehen, wenn die Äußerung lediglich seine Darstellung des Sachverhalts zuspitzt und abschließt, aus der sich ergibt, dass er die Vorgehensweise des beteiligten Polizeibeamten für unangemessen erachtet; denn damit trägt er einen Umstand vor, der nach § 47 Abs. 1 Satz 2 OWiG im Rahmen der behördlichen Ermessensausübung zu berücksichtigen sein kann.


Entscheidung

281. BVerfG 2 BvR 1345/08 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 5. März 2012 (LG Düsseldorf / AG Langenfeld)

Durchsuchungsbeschluss; Begrenzungsfunktion; Tatvorwurf (Konkretisierung); Beweismittel (aufzufindende); Bußgeldverfahren; Schwarzarbeitsbekämpfung.

Art. 13 GG; § 103 StPO; § 105 StPO; § 8 Abs. 3 SchwarzArbG

1. Der mit einer Durchsuchung verbundene schwerwiegende Eingriff in die durch Art. 13 Abs. 1 GG geschützte persönliche Lebenssphäre ist nur zu rechtfertigen, wenn der Richter seiner in Art. 13 Abs. 2 GG vorgesehenen Kontrollfunktion in angemessenem Maße nachkommt. Hierzu gehört es, dass er durch eine geeignete Formulierung des Durchsuchungsbeschlusses im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren sicherstellt, dass der Grundrechtseingriff messbar und kontrollierbar bleibt.

2. Vor dem Hintergrund seiner verfassungsrechtlichen Begrenzungsfunktion muss sich aus dem Durchsuchungsbeschluss insbesondere ergeben, welches konkrete Verhalten dem Betroffenen zur Last gelegt wird und inwiefern sich daraus der Verdacht einer zumindest kurz zu umschreibenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergibt.

3. Dem genügt es nicht, wenn die vorgeworfene Ordnungswidrigkeit lediglich mit „Arbeiten des Dachdecker- Handwerks (...) unter Verstoß gegen § 1 Abs. 2 Nr. 4 u. 5 des Gesetzes zur Intensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und damit zusammenhängender Steuerhinterziehung“ bezeichnet wird, ohne dass zwischen den unterschiedlichen gesetzlich definierten Formen von Schwarzarbeit differenziert oder ein Bußgeldtatbestand bezeichnet wird.

4. Der Beschluss muss auch den äußeren Rahmen der Durchsuchung abstecken und den Ermittlungspersonen zweifelsfrei aufzeigen, worauf sie ihr Augenmerk zu richten haben. Dies kann im Einzelfall auch die Angabe von Indiztatsachen erforderlich machen, auf die der Verdacht gestützt wird.

5. Eine Umschreibung der aufzufindenden Beweismittel mit „Verträgen oder Aufträgen jeder Art (...), Rechnungen, Bankbelegen sowie Buchführungsunterlagen, Muster- oder Mustermappen, Karteikarten, Terminkalendern, Schriftverkehr aus dem hervorgeht, dass der Obengenannte das Handwerk/Gewerbe ausübt, Quittungen, Sparkassenbücher etc.“ genügt diesen Anforderungen nicht, weil er nahezu alle denkbaren Geschäftsunterlagen ohne weitere Eingrenzung erfasst.